Domestikation

Warum ist jeder „Familienhund“ wesentlich ein Jagd- und Arbeitshund?

Um die Qualität des heutigen Zusammenlebens von Mensch & Hund sachlicher und weniger voreingenommen bewerten zu können, kann es helfen, einen Blick auf die gemeinsame Vergangenheit der beiden zu werfen:

Zur Zeit der nomadisch lebenden Jäger und Sammler waren Mensch & Wolf in Form einer symbiotischen Beziehung auf eine sehr ursprüngliche Weise miteinander verbunden. So spielten bestimmte Wölfe zunächst in ihrer Funktion als Abfallbeseitiger an der Peripherie des menschlichen Lagerplatzes eine wichtige Rolle, da sie zu besseren hygienischen Bedingungen, weniger Krankheiten und somit zu insgesamt besseren Lebensbedingungen der Menschen beitrugen. Da diese „Urhunde“ jedoch noch sehr scheu waren und eine sehr hohe Fluchtbereitschaft besaßen, war so etwas wie Domestikation erst mit der Verringerung der Fluchtdistanz möglich, denn erst von da an konnten Wolf/Hund und Mensch etwas annähern und sich gemeinsam auf Nahrungssuche bzw. eine gemeinsame Jagd begeben. Während der Vierbeiner dem Menschen bei der Jagd überlegen war und somit für schnellere und ergiebigere Jagderfolge sorgte, übernahm der Jäger Mensch sehr bald den Akt des Tötens der erjagten Beutetiere, was für seinen Jagdgefährten Wolf einen Vorteil brachte: er blieb unversehrt und konnte Energieressourcen für weitere Jagden sparen, wovon wiederum der Jäger Mensch profitierte.

Wesentlich bei dieser damaligen Form des Zusammenlebens war, dass die gemeinsame Jagd für beide Seiten Überlebensvorteile brachte und Mensch & Hund durch gleiche Interessen (Nahrungssuche) und Ziele (erfolgreich Beute machen) auf eine natürliche Weise miteinander verbunden waren.

Als die Menschen allmählich sesshaft wurden und anfingen, rudimentäre Formen der Viehzucht und des Ackerbaus zu betreiben und Vorräte anzuhäufen, waren die jagdlichen Qualitäten des Hundes nicht mehr so sehr erwünscht. So sollten die Hunde der Bauern nun die Schafe – eine der anderen sehr früh domestizierten Tierarten – vor anderen Beutegreifern und potenziellen Dieben schützen anstatt sie zu jagen. Erste Diskrepanzen entstanden im Zusammenleben von Mensch & Hund, die in engem Zusammenhang mit der kulturellen Entwicklung des Menschen standen und auch heute noch stehen. Aus dem Allrounder Herden- bzw. Schäferhund kristallisierten sich unterschiedliche Spezialisten heraus wie z.B. – speziell für die bewachende Funktion – der Herdenschutzhund oder zum anderen der Hütehund, dessen spezielle Aufgabe es war, die Herde von einer Stelle zur anderen zu bewegen. Daneben brauchte man auch Hunde – eher die etwas kleineren der Terrier-Typen –, die in ihrer Funktion als Ratten- und Mäusejäger die von den Menschen angesammelten Vorräte von Ungeziefer frei hielten und somit auch ein Interesse daran hatten, ihr Jagdgebiet, den Hof und die Scheune, gegen Eindringlinge zu verteidigen. Darüber hinaus galt es nun aber auch größere, von Menschengruppen besetzte Gebiete gegen andere, Besitzanspruch erhebende Gruppen/Stämme im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen zu verteidigen, und auch hier sollte der Hund den Menschen dienen: in Form und Funktion der großen und schweren, molosserartigen  Kampf- und Kriegshunde.

Wesentlich für diese kulturelle Entwicklungsphase war, dass Hunde immer im Hinblick auf ihre Nützlichkeit für bestimmte Aufgaben- und Arbeitsbereiche selektiert wurden.

Ab dem Mittelalter erfolgten mit der Spezialisierung der Bauern auf ganz bestimmte handwerkliche Fertigkeiten und im Zuge der Entstehung der unterschiedlichen Handwerksberufe weitere Veränderungen für das Leben des Hundes. Immer mehr wurde er nur noch in ganz bestimmten Lebensbereichen des Menschen gebraucht und für seinen Einsatz in diesen Bereichen zunehmend spezialisiert. Der Hund zog nun u.a. den Weber-, Fleisch- und Fischkarren zum Markt, trieb das Vieh zum Schlachten usw.

Die Jagd hingegen wurde immer mehr zu einer Freizeitbeschäftigung privilegierter Schichten wie des Adels, der hierfür auch wieder ganz spezielle Hundetypen favorisierte, und somit wurden Hunde auch zu Statussymbolen für bestimmte Schichten innerhalb der Bevölkerung.

Darüber hinaus entstand eine weitere Funktion für den Hund: Die des Kind-Ersatzes und des Familienhundes für die von der Außenwelt weitgehend abgeschirmten Burgfräulein und Damen des Adels, deren eigene Kinder standesgemäß von Ammen groß gezogen wurden. Um ihre dennoch vorhandenen mütterlichen bzw. allgemein sozialen Kontaktbedürfnisse zu befriedigen, versorgte man diese Damen mit sog. Schoßhündchen.

Im Zuge der Industrialisierung und zunehmenden Trennung von Arbeits- und Freizeit der Menschen wurde diese künstlich geschaffene Trennung wie selbstverständlich nun auch auf den Hund übertragen. Da der Mensch nun im Rahmen seiner beruflichen Arbeit in der Regel recht einseitig körperlich und/oder geistig beschäftigt und somit auch einseitig belastet wird, sehnt er sich nach einem entsprechenden Ausgleich in der Freizeit wie z.B. in Form von Spazierengehen, Radfahren, Joggen usw. oder durch die Ausübung immer beliebter werdender Extremsportarten, die ihm den ultimativen „Kick“ verschaffen sollen, der ihm im alltäglichen Leben fehlt. Und auch vom Hund wird nun nicht selten eine ähnliche Denk- und Sichtweise erwartet: In seiner vom Menschen definierten „Arbeitszeit“ wird er erzogen und trainiert, er soll dann ordentlich „bei Fuß“ gehen und/oder auf Zeit und häufig unter Wettbewerbsbedingungen sportliche Übungen absolvieren. In seiner „Freizeit“ braucht er nicht bei Fuß zu gehen, sondern darf „Freilauf“ haben und soll sich dann auch „ ordentlich austoben“.

Domestikation hat bewirkt, dass es Hunden überhaupt möglich ist, permanent mit Menschen in deren Umwelt zusammenzuleben; sie hat nicht bewirkt, dass Hunde ihre rassespezifisch beeinflusste und persönlich entwickelte Sicht der Dinge aufgegeben haben.